Training für pfundige Sportler - ohne Schlanke
Kempten Übergewichtige meiden den Weg ins Fitness-Studio meistens - zu sehr schämen sie sich, neben all den schlanken Sportlern schlecht auszusehen.
Ein Fitness-Studio im Allgäu bietet daher Kurse an, die nur Pfundigen vorbehalten sind - mit Erfolg.
Als sich Anneliese Degendorfer auf die Waage stellt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. «Jetzt sind die ersten 20 Kilo geschafft», freut sich die 54-Jährige aus Lauben im Oberallgäu und blickt stolz in die Runde. Das Ergebnis wird von den anderen Frauen begeistert aufgenommen. Denn in der Gruppe für pfundige Sportler, die in einem Fitness-Studio in Kempten einmal pro Woche trainiert, spielt das Gemeinschaftsgefühl eine große Rolle. Zusammen wollen die überwiegend weiblichen Teilnehmer, die zwischen 80 und 160 Kilogramm wiegen, ihre Pfunde loswerden. «Wir haben alle das gleiche Problem: Wir leiden unter angefressenem Fett», spricht eine der Frauen die Gemeinsamkeit offen aus.
Bis zu 20 Übergewichtige aus dem Allgäu treffen sich jeden Samstag in dem kleinen Studio in der Kemptener Innenstadt. Bevor es losgeht, steht für alle Wiegen und Fettmessen auf dem Programm. «Das dient der persönlichen Kontrolle. Außerdem spornt es zu guten Ergebnissen an, wenn man vor Publikum gewogen wird», sagt Studio-Chef Manfred Aicher. Er hat vor knapp zwei Jahren die Gruppe ins Leben gerufen, um Übergewichtigen die Möglichkeit zu geben, unter sich zu sein. Während die Gruppe trainiert, bleibt das Fitness-Center für alle anderen geschlossen. «Man kann von einer Frau mit 150 Kilo nicht erwarten, dass sie sich wohlfühlt, wenn hier gleichzeitig die schlanken Mädels mit knackigen Hintern rumlaufen», erklärt Aicher.
Laut Arbeitgeberverband Deutscher Fitness- und Gesundheitsanlagen (DSSV) ist ein solches Angebot speziell für Übergewichtige eine Seltenheit. «Es ist für viele Betreiber schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich, ihr Studio einmal pro Woche für alle anderen Kunden zu schließen», sagt DSSV-Geschäftsführer Refit Kamberovic. Wenn das Training für pfundige Sportler nach ärztlicher Empfehlung erfolgt, schonend aufgebaut ist und mit einer Ernährungsberatung kombiniert wird, hält er dieses Modell durchaus für nachahmenswert. «Für Menschen mit Übergewicht ist Bewegung sehr wichtig. Den Anfang zu finden, ist am schwersten. Es ist toll, wenn ihnen für diesen Schritt eine Intimsphäre geschaffen wird.»
Diese Intimsphäre weiß eine Frau aus Wildpoldsried sehr zu schätzen, als sie auf die Waage steigt. 142 Kilo werden dort angezeigt. «Wenn hier noch andere mittrainieren würden, wäre ich nicht gekommen. Dazu ist die Hemmschwelle zu groß.» Die 42-Jährige, die anonym bleiben möchte, ist heute zum ersten Mal dabei. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, auf einen zweistelligen Wert zu kommen. «Ich bin mal gespannt, wie mir das Training bekommt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie Sport getrieben.»
Ähnlich erging es Christina Schubert , als sie vor einem Jahr zur Gruppe stieß. «Am Anfang habe ich geschnauft wie eine alte Dampfwalze», erinnert sich die 55-Jährige. Inzwischen fallen ihr die Übungseinheiten leichter. «Viel abgenommen habe ich noch nicht. Aber ich fühle mich irgendwie gesünder und wohler.»
Aicher hat für die pfundigen Sportler ein besonders gelenkschonendes Zirkeltraining ausgearbeitet. «Wir fangen ganz langsam an. Viele müssen ihren Körper erst kennenlernen.» Das jeweilige Gewicht an den Geräten und die Intensität der Übungen werde auf jeden individuell zugeschnitten. Zusätzlich berät er die Wohlbeleibten, wie sie ihre Ernährung sinnvoll umstellen können. «Fettreduzierte Ernährung macht 70 Prozent des Erfolges aus», weiß Aicher, der selbst vor ein paar Jahren 40 Kilo abgenommen hat. Sein persönlicher Erfolg und der einiger Mitglieder der Fitness-Gruppe habe sich inzwischen herumgesprochen. Auch die Krankenkassen schickten bereits Übergewichtige zu ihm, sagt der Trainer.
Den Rekord der Gruppe hält Claudia Bülling. 47 Kilo hat die 35-Jährige seit Bestehen der Gruppe abgespeckt. «Ich hätte nie gedacht, dass ich das schaffe. Aber in der Gruppe fiel es mir wirklich leicht.» Dabei hatte sie sich keine hohen Ziele gesteckt. «Damit setzt man sich nur unter Druck.» Seit sie knapp einen Zentner leichter ist, fallen ihr viele Dinge im Alltag leichter. Besonders freut sich Claudia Bülling, dass sie sich jetzt anders kleiden kann. «Ich habe alle weiten Klamotten aussortiert.» Nur eine alte Hose hängt noch in ihrem Schrank. «Die soll mich immer daran erinnern, wo ich mal reingepasst habe.» Von Birgit Klimke, dpa
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